Bagsy


Gehe ich damit um?

Obwohl mein Prüfungstermin diesen Monat nicht klappte, tauche ich immer noch ins Deutsche ein. Vor einigen guckte ich eine Bundestagsdebatte an, die um die aktuelle Energiekrise in Deutschland und ganz Europa ging. Ich sah mir sie mit so viel Interesse an, als ob sie Demokratie auf höchstem Niveau war. Leute aus nicht nicht nur zwei sondern mehreren Parteien versammelten sich, damit sie ihre Meinungen zu heiklen Themen miteinander teilen konnten, die fast nie in den USA ins Gespräch kommen. Jede Stimme wurde den Raum angeboten, gesprochen zu werden.

Man kann nicht bestreiten, dass das politische Klima in Deutschland gleichzeitig beunruhigend ist. Immerhin bedroht die AfD immer mehr Toleranz und die Anpassung an den Klimawandel, die die meisten Deutschen für selbstverständlich halten. Es sollte auch nicht vergessen werden, dass die Fähigkeit der Ampel-Regierung im Zweifel ist und das Rassismus offenbleibt. Europa bewältigt diesen Winter die Energiekrise, aber was ist mit dem nächsten Jahr?

Trotzdem beendete ich die Sendung mit Hoffnung, einem Gefühl, das mir bei der US-amerikanischen Politik nachlässt. Ich bin überhaupt nicht erfreut, dass die rechtsradikale Stimme in Deutschland widerhallt. Doch gluckste ich über die Gesichtsausdrücke von Vizekanzler Robert Habeck, als die AfD ausgebuht wurde. Fast niemand nahm eine ihrer Reden ernst. Andererseits haben die Rechtsextremen in den USA eine Agenda, die anscheinend jeden Tag in Schwung kommt. Üben die US-Amerikaner Kritik daran? Ja. Ändert sich etwas? Gar nicht, und es erschöpft mich. Anstatt den Klimawandel zu bekämpfen, streiten wir darüber, ob Frauen körperliche Autonomie haben sollten. Öffentlicher Nahverkehr mangelt, es sei denn, man denkt, dass Uber zählt, oder in einer der vier Großstädten lebt, in denen ein zuverlässiges System besteht. Alles wird so teuer, dass man sich das Leben kaum noch leisten kann. Wie kann ich damit umgehen?

Immer mehr bin ich der Überzeugung, dass ich nicht kann. Es kommt zum Punkt, an dem ich mich frage, ob diese Frage sich überhaupt lohnt. Das klingt eher dramatisch, unter allem weil ich ein privilegierter Mensch bin. Ich gehöre nicht zu den am meisten Betroffenen. Aber was für ein Leben ist es, wenn man immer denkt, dass sein Land in die falsche Richtung geht? Dass sich nichts zum Besseren wenden wird?

Ich kam mit diesem Jahr zurecht. 2022 war wirklich eine Achterbahn, dafür ich keine Fahrkarte kaufte. Als der Krieg in der Ukraine im Februar aufkam, hatte ich schon Lust, dass das Jahr endlich vorbei wäre. Meine Arbeit langweilte mich oft, und ich verliere eine enge Freundin. Das ist nicht zu sagen, dass es nichts Positives gab: Endlich reiste ich nach Deutschland, ein lebenslanger Traum von mir. Bevor der Reise dachte ich schon, dass sie eine Probe war, ob ich eines Tages nach Deutschland umziehen möchte und könnte. Natürlich war diese Erfahrung ein Urlaub, denn ich als Touristin fand Vergnügen an Museen und Sehenswürdigkeiten. Allerdings gewöhnte ich mich an den deutschen Lebensstil. Ich habe beschlossen, dass ich mich irgendwann gerne über die deutsche Bahn beschweren würde.

Ich war in den Berlin Hauptbahnhof verliebt.

Doch zweifele ich an mir selbst. Mehr als die Hälfte der Reise war ich von der Tatsache eingenommen, dass ich eigentlich in Deutschland war. Ich erinnere mich an meinen Spaziergang in Potsdam von Cecilienhof zum Stadtzentrum. Ich konnte in den Tag hineinleben aber nicht für immer. Alleine dachte ich bei mir: was mache ich denn? Auf jeden Fall mag ich Deutschland, aber da verbrachte ich fast keine Zeit. Wie kann ich es wirklich wissen, ob Deutschland mir besser passt oder nicht? Ich bin mir nicht sicher: ist diese Einbildung eine Ablenkung von der Alltäglichkeit meines Lebens?

Ich denke an die Dinge in den USA, die ich vermissen würde: die zahlreichen Konzerte, die Eigenarten des Mittleren Westens, den Zugang zu Chicago – meiner Lieblingsstadt, die Landschaft, die Möglichkeit einer erfolgreichen Karriere in den USA und nicht zuletzt meine Freunde.

Andererseits habe ich fast mein halbes Leben lang an diese Sprache gehalten. Das ist keine Phase. Ich denke zu viel darüber nach.

Während der Reise verzichtete ich auf englischsprachige Musik und unter allem US-amerikanische Nachrichten. Ersteres war der Grund, warum “Spring” von Provinz mein Top-Song des Jahres wurde. Letzteres war angenehm, endete aber abrupt. Ich vergesse nie, dass nur wenige Stunden vor meiner Rückkehr in die USA eine weitere Massenschießerei stattfand. Das war nichts Neues; willkommen zurück in der Realität.

Ein wachsender Teil von mir will das aber nicht mehr als Realität akzeptieren. Immer mehr befinde ich mich auf Subreddits wie r/IWantOut und r/Amerexit. Ich sage zu mir selbst, dass es alles zum Spaß ist. Aus Neugier. Es gibt doch einen Hauch von Ernsthaftigkeit, den ich nicht ignorieren kann. Bemerkenswert ist, dass ich erst Monate nach der Reise daran dachte, ein Zertifikat zu erwerben, um meine Deutschkenntnisse zu beweisen. Das kam mir noch nie in den Sinn.

Ich weiß nicht, worauf ich hinaus will. Ich kann nur sagen, dass ich schon wieder nach Deutschland reise. Ich werde dort meine C2-Prüfung ablegen. Mit großem Interesse verfolge ich im Moment die deutsche Politik. Ich habe immer noch Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Dennoch bin ich mir über eines sicher: meine Erfahrungen im Jahr 2022 störten mich so sehr, dass ich mich von US-amerikanischer Gesellschaft trenne wie nie zuvor. Damit orientiere ich mich anders.

Meine Doktormutter sagte mir, dass es ein guter Zeitpunkt ist, nach Europa zu ziehen. Noch immer denke ich über diese Aussage nach und bin froh, dass das Jahr 2022 endlich vorbei ist.